
Die natürliche Umwelt der Christenheit ist die volle, ungeschützte Realität der Welt. Jesus hat sie in diese Welt hineingesandt, in die umfassende Wirklichkeit der gut geschaffenen und inzwischen schwer beschädigten Schöpfung. In diesem Ökosystem sind sie keystone species, sie haben also eine Schlüsselposition für das Gedeihen der Schöpfungsgemeinschaft. Paulus drückt das so aus, dass die gesamte Schöpfung „sehnsüchtig darauf wartet, dass die Kinder Gottes in ihrer ganzen Herrlichkeit sichtbar werden“ (Römer 8,19). Alles wartet darauf, dass wir unsere Rolle endlich annehmen und einnehmen. Jesus nennt seine Leute deshalb „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“. Ohne seine Jüngerinnen und Jünger fehlt etwas Entscheidendes in der Welt.
Eine Welt voller Widersprüche
Aber man muss noch präziser beschreiben, was das für eine Welt ist. Die echte, ungeschönte Realität ist von Konflikten und Widersprüchen durchzogen. Das sieht man im Großen wie im Kleinen: die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf dem Planeten, Kriege und Ausbeutung prägen die Realität im Großen, ebenso wie das nicht grundlose Misstrauen zwischen Geschlechtern, Kulturen, Altersgruppen und zwischen Arm und Reich. Genauso tun es aber auch Konflikte und Rangeleien im Nahbereich: Mobbing, Gewalt, Krankheit an Leib und Seele, Verbitterung und Suizidalität, Lüge und Hass. Und es gibt viele Verbindungen zwischen der großen und der kleinen Welt.
Klar: die Welt ist zum Glück immer noch voller Schönheit, und gerade Deutschland ist im weltweiten Vergleich ein ziemlich guter Ort zum Leben. Aber auch das zeigt genau diese Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit: Andere bezahlen dafür, dass wir hier ein relativ komfortables Leben haben. Und die Fähigkeit, sich wenigstens an diesem guten Leben zu freuen, ist auch oft verlorengegangen.
Kreuz als Realsymbol
Gewählt werden in unserem Land diejenigen, die am ehesten die Gewähr dafür zu bieten scheinen, dass sie uns vor der harten, konfliktgeprägten Welt da draußen schützen können. Man kann das den Menschen noch nicht mal wirklich übel nehmen. Aber die Christen wenigstens könnten aus ihrer Bibel eigentlich wissen, dass Jesus uns aus diesen Sicherheiten herausruft. Dass er offensiv auf den Konflikt mit den Mächten seiner Zeit zugegangen ist und sich damit für seinen Tod den denkbar unkomfortabelsten Ort, also das Kreuz, gewählt hat. Wer Kreuzestheologie treiben möchte, sollte sich klarmachen, dass das Kreuz zuallererst Konflikt bedeutet.
Das bedeutet nicht, dass alle Nachfolger:innen Jesu ähnlich enden müssten. Es heißt zunächst und zuerst, dass Christen und Christinnen die Konflikthaftigkeit der Welt an diesem Realsymbol „Kreuz“ wahrnehmen können und sollen. Und dass sie dieser Konflkthaftigkeit nicht ausweichen, sondern mutig auf die reale Welt zugehen, so wie es der Herr gemacht hat. Denn in dieser Welt voll großer und kleiner Widersprüche werden sie gebraucht. Sie ist das Ökosystem, in dem sie eine entscheidende Rolle spielen sollen.
Kirche „auszuwildern“ bedeutet deshalb, dass die Christenheit bei uns den schützenden Rahmen hinter sich lässt, der die Konflikte in unserer Welt nur gefiltert zu uns durchdringen lässt. Und zwar einschließlich der Theologie, die in das Kreuz tiefe Symbolismen hineingeheimnisst, es aber nur andeutungsweise als Realsymbol für die Vermachtung der Welt entschlüsselt. Nur ohne diesen Schutz werden wir auch die Lebenskraft entdecken, mit der Gott seine Leute mitten im Streit beschenkt.